Reisen mit Fahrrad und Zelt – ein paar Gedanken zu meiner Tour

Neun Wochen am Stück
Auf meiner Tour Kassel - Rom erlebe ich das Radfahren und das Reisen in einer neuen Liga. 9 Wochen an einem Stück war ich noch nie unterwegs. Es war fantastisch, zu erleben, wie meine schon ergrauten Beinchen und meine Kondition langsam aber stetig mit den im wahrsten Sinne des Wortes steigenden Anforderungen wuchsen. Eine Unterstützung für das sportliche Vergnügen war sicherlich, dass ich Zuhause täglich Rad fahre und Sonntags hin und wieder Touren von 50 - 100 km unternehme. Aber ich habe vorher kein ausgefeiltes Trainingsprogramm absolviert und die Sonntagstouren finden auch mit meinem leichten Alurad und ohne Gepäck statt. Zuversicht habe ich allerdings aus meinen Erfahrungen mit den jährlichen 14-tägigen Radtouren auf den Peleponnes mit meinem Mitbewohner Uwe geschöpft. Das betrifft meine Möglichkeiten, die mir mit Gepäck und Rad zur Verfügung stehen, sowie die Erfahrung, länger als ein Wochenende in einem kleinen Zelt zu leben, sich selbst zu versorgen und sich dabei noch richtig wohl zu fühlen.
Mein Goldesel und ich
Nur mit einem auf die persönlichen Bedürfnisse abgestimmtes Fahrrad ist so eine Tour ohne viel Frust möglich. Dazu braucht es einen stabilen Rahmen und Fahrradtechnik, die man/frau ausreichend erprobt hat und gut gepflegt wird. 

Mein 'Goldesel' und ich sind nun schon 10 Jahre zusammen und können uns in allen Radlerlebenslagen aufeinander verlassen. Wir sehen zwar Beide nicht mehr aus wie aus dem Ei gepellt, dafür haben wir uns im Laufe der Jahre immer besser aufeinander eingestellt. Mein 'Goldesel' ist nicht der Leichteste, dafür belastbar, auf meine Ergonomie eingestellt, technisch up to date und zuverlässig. Ich führe ihn dafür regelmäßig aus, sorge für einen trockenen Unterstand, pflege ihn und halte mich fit. Vielleicht schaffen wir noch ja noch ein weiteres Jubiläum.

Gewisse, dem fortschreitenden Alter angepasste Veränderungen sind dafür jedoch nötig. Es ist eben alles nicht mehr so elastisch. Für die unausweichliche einsetzende 'Materialermüdung' nicht nur am Fahrrad lassen sich Komponenten Erwerben, die für Erleichterung sorgen. Wenn sich  verspannte Muskeln und kribbelnde Hände und Füße melden, wird es spätestens Zeit, die windschnittige Sitzhaltung aufzugeben und eine aufrechte Position zu wählen. Das habe ich erst nach mehr als 1.000 km begriffen, mir unterwegs in Freibung einen wesentlich höheren Vorbau besorgt und später in Füssen noch eine bis dato verpönte gut gepolsterte Radfahrhose zugelegt.

Luxusleben

Ein gewisse Luxusausstattung hat mir das Leben auf und mit dem Rad erleichtert. Dazu gehört eine 14-Gang Nabenschaltung von Rohloff, eine Magura Hydraulikbremsanlage und ein Nabendynamo von Schmidt mit einer LED-Lichtanlage von Busch und Müller. Dafür habe ich eine Menge Kröten über den Tresen geschoben, für die ich mir in einem Fahrradsupermarkt 2 Fahrräder hätte holen können.

Für die Fahrradnavigation habe ich mir Komoot auf mein iPhone geladen. Damit ich es jederzeit in meinem Blickfeld befindet, habe ich mir eine kleine Tasche von KlickFix mit Sichtfeld besorgt, die ich auf dem Oberrohr befestigt habe. Bei intensiver Sonneneinstrahlung ist das jedoch noch keine optimale Lösung, da sich das iPhone dann überhitzt und von selbst abschaltet. Um es dann wieder zum Leben zu erwecken, hilft nur noch Reiki mit einem frommen Spruch und einem nassen Tuch.

Für ganz großen Komfort hat meine superleichte Isomatte (530 g) von Thermarest gesorgt (vergleichbares gibt es bestimmt auch von anderen Anbietern) und hat dabei auch noch ein sehr kleines Packmaß. Trotz geringem Gewicht ist sie das Bequemste, das ich bisher zwischen mir und dem Zeltboden geschoben habe. Dennoch hat sie auch Nachteile: sobald ich mich darauf bewege, knirscht es innen drin, sie ist Empfindlich gegen UV-Licht (eine habe ich deswegen schon gekillt) und muss aufgepustet werden.

Für noch mehr Luxus hat mein kleiner Faltstuhl Helinox gesorgt. Die zusätzlichen 900 g haben bergauf mindestens für zusätzliche 900 Schweißtropfen gesorgt, die aber sofort vergessen sind, wenn ich mich zwischendurch oder am Abend bei Sonnenuntergang darin ausruhe.

 

Alleine reisen

Es ist nun das 6. Mal, dass ich eine Reise ohne BegleiterIn unternehme. Während dieser vorhergehenden Touren gab es immer Phasen, in denen ich mich alleine fühlte und eigentlich lieber wieder Zuhause gewesen wäre. Das ist in diesen Wochen völlig anders.
Noch vor der Abfahrt habe ich mir vorgenommen, Leute, denen ich gerade begegne, immer wieder spontan mit intuitiven Einfällen anzusprechen.

Eigentlich habe ich eine Abneigung, wildfremde Menschen zu bequatschen. Zu meinem Erstaunen ist es mir von Mal zu Mal leichter gefallen und hat zu vielen manchmal langen Gesprächen geführt, die dann noch eine ganze Weile auf dem Fahrrad nachklingen. Ab Verona werden diese Gespräche leider etwas seltener, da meine Kenntnisse in Italienisch nur sehr bescheiden sind. Aber auf den Campingplätzen gibt es immer wieder Gelegenheiten für ein Schwätzchen, oft mit anderen RadfahrerInnen, darunter sehr viele HolländerInnen. Immer wieder werde ich jedoch auch angesprochen, oft bei kleinen Pausen an der Straße oder bei einer Rast in den Orten, meistens jedoch beim Zelten. Selbst wenn es ‚nur’ auf Italienisch ist, verstehe ich manchmal zu meiner eigenen Überraschung doch einiges, nur antworten kann ich leider kaum. Schön sind diese Gespräche dennoch, einfach weil mir viel Freundlichkeit und Herzlichkeit begegnet. Manchmal muss ich auch schmunzeln, wenn mit dicken Beinmuskeln bepackte italienische Rennradfahrer beim Überholen ein knappes ‚Complimenti’ rüber werfen. Andere werden wegen des vielen Gepäcks und der dicken Hinterradnabe von Rohloff auf mich aufmerksam, fragen neugierig nach dem sonderbaren E- Bike und suchen vergeblich nach einem Akku.

Ortsbegehungen

Fast immer ist das Ziel meiner Etappen ein Ort oder eine Stadt. Das liegt natürlich auch daran, das Campingplätze meist in der näheren Umgebung von Ortschaften angesiedelt sind. Aber vor allem sehe ich mich dort auch gerne um. Ich schaue mir sehr gerne historisch gewachsene Architektur an, insbesondere dann, wenn auch noch ‚Trümmer’ aus dem Altertum zu besichtigen sind. Zwischendurch darf es auch ein Museum sein. Von allem kann ich auf dieser Tour viel bestaunen. Doch in Volterra merke ich, dass ich davon langsam genug habe. Hier reifen schon erste Gedanken, dass es nach Rom reizlos sein wird, weiter Kulturgüterbeschau zu betreiben und Napoli wird von ersten Nebelschwaden eingehüllt.

Spannend finde ich, wie sich auf dem Weg nach Süden langsam der Baustil in den Orten verändert. Dabei sind es nicht immer die Staatsgrenzen, die einen Wechsel ankündigen.

Reizvolle Landschaften

Meine Beinchen haben die Kurbel vorbei an vielen verschiedenen Landschaften in Rotation versetzt. Jede dieser Landschaften hatte ihre eigenen Reize, auch wenn sie mir nicht immer gefallen haben.
Manche Etappen, vor allem auf Wegen mit sehr wenig Autoverkehr, haben mir tiefe Glücksgefühle beschert, fast schon einen Rausch. Dabei spielte die Geschwindigkeit des Radfahrens eine entscheidende Rolle. Die Bewegung ist noch langsam genug, um alles um mich herum wahrnehmen zu können. Dennoch bin ich schnell genug, um nicht in  einem ‚Standbild’ Wurzeln zu schlagen.
Nur die sehr flache und wenig abwechslungsreiche Poebene, die zudem in vielen Orten und bei Gebäuden sehr vernachlässigt wirkt, hat mich wenig beeindruckt und ist mir vor allem durch unzählige Mückenstiche in nachhaltig peiningender Erinnerung geblieben. Auch nach den vielen Wochen, die ich nun schon unterwegs bin, kann mich der Anblick von besonderen oder abwechslungsreichen Landschaften immer wieder von neuem völlig begeistern, auch wenn ich sie so ähnlich schon vielfach gesehen habe.

Immer nur draußen

Tag und Nacht draußen, keine Mauern um mich herum, wochenlang immer frische Luft um die Nase, ohne Pause in der Natur, das ist eine einzigartige und sehr berührende Erfahrung.

Nur zum Schlafen bin ich im Zelt, aber das ist nach meiner Erfahrung auch fast draußen: erstens höre ich auch hier alles um mich herum und zum anderen lasse ich genug 'Luken' auf, die für Durchzug sorgen.

Trotz allem bin dennoch nicht der Typ, der eine Reise in Mutters freier Natur als Herausforderung für ein Überlebenstraining betrachtet.

Ein 'Dach über dem Kopf'mit 'Wänden', die mich vor Kälte, Regen und Mückenattacken schützen, sind mir unerlässlich. Wenn ich dann noch einen Zeltplatz ohne Parzellierung mit vielen Bäumen und Büschen, einfachem sanitären Comfort und ohne nervige Dauerbeleuchtung finde, steigt vor Freude meine Herzfrequenz. Während meiner früheren Touren habe ich gerne Mal irgendwo im Nirgends wild gezeltet, hauptsache es war eine schöne Stelle und ich war ausreichend mit Lebensmitteln und Wasser versorgt. Ein einladender Platz ist mir aber nie über den Weg gelaufen und die nötige Zeit zum Suchen habe ich mir nur einmal genommen - nicht ganz freiwillig.

Mit meinen Erwartungen bin ich von einer sonnigen und warmen Wetterlage abhängig. Kälte, Wind und vor allem anhaltende Regengüsse können mir die Freude an jeder Tour ziemlich vermasseln. Eine Bekannte von mir ist zur gleichen Zeit im Norden Scandinaviens und im Baltikum mit dem Fahrrad unterwegs. Die Temperaturen bewegen sich dort auch tagsüber oft im unteren einstelligen Bereich und auch der Regengott ist nicht gerade geizig. Unter solchen Bedingungen würde ich meine Tour wohl abbrechen.

Radfahren in der Schwebe

Wochen vor der Abfahrt und vor den Alpen plagte mich ab und zu eine Phase mit einem riesen Respekt vor Radtour, die mir zu anstrengend werden könnte.  Auch wenn ich schon viele Bergtouren (mit Gepäck) absolviert habe, war ich mir nicht sicher, ob ich diese lange und anspruchsvolle Strecke körperlich durchhalte und anhaltende Motivation zum Weiterfahren aufbringe. Doch nach rund 2.700 km staune ich immer noch, wie gut meine Lunge, mein Herz und vor allem meine Beinchen diese Belastung bisher bestehen. Auch wenn ich viele lange Strecken und für meine Verhältnisse enorme Steigungen überwunden habe, ist mein vorrangiges Streben nicht der sportliche Ehrgeiz und die Gier nach Höchstleistung. Natürlich bin ich dennoch enorm Stolz auf die geschaffte Strecke, ich freue mich jedesmal über Komplimente, die mir manches Mal auch spontan von Bürgersteig aus zugerufen werden. Das erinnert mich daran, und das ist mir am wichtigsten, dass ich mit 60 noch fit genug für diese Tour bin und mich im Laufe dieser Wochen noch gesteigert habe. Die vielen Belastungsproben in der Toscana waren allerdings Oberkante Unterlippe und hätten heftiger nicht ausfallen dürfen.

Ohne die 2.000 km lange Probezeit von Kassel bis Sassuolo wären die Tagesetappen in der Toscana sicher wesentlich kürzer ausgefallen und ich hätte Mühe gehabt, überhaupt eine der rar gesäten Campingplätze zu erreichen, würde mit letzten Kräften eine Wildcampstelle suchen und dann ohne Gesellschaft einsam in Wäldchen allein mit meinem Fahrrad und meinem Kocher vor meinem Zelt hocken.

Radfahren gefällt mir nicht nur so sehr wegen der sportlichen Betätigung, es ist vor allem die Kombination von Bewegung und Landschaftserlebnis. Die schweißtreibende Anstrengung bei den Steigungen  lohnt sich für mich nicht wegen der reinen Herausforderung, sondern weil ich mit eigener Kraft den Berg hinauf fahre und mir damit den Ausblick quasi erst verdiene und mir vielleicht daher umso großartiger vorkommt. Diese 'Nachzahlung' ist mir am intensivsten von den Strecken am Reschenpass / Vinschgau und der Toscana in Erinnerung.

Meist beginne ich eine besonders lange Etappe mit der 'Salamitaktik'. Ich teile die Strecke in Bruchstücke auf und fange mit zwanzigstel an. Sobald ich 2 davon geschafft habe, rechne ich in zehntel um usw. Das beschäftigt mich eine Weile und schon finde ich ganz von alleine mein Tempo für diesen Tag. Nach so vielen Tagen auf dem Rad kann ich sagen, dass das 'richtige', persönliche Tempo sehr wichtig ist. Ich habe den Eindruck, dass ich mich mit meinem Tempo

nicht so schnell verausgabe.

Nach 1 - 2 Stunden auf dem Sattel fasziniert mich oft ein Erlebnis der besonderen Art. Ob ich schwitze, Schmerzen in Beinen, Po und sonstwo habe, ist dann fast nichts gegen diesen schwebenden Zustand mit und auf dem Rad. Dann ist die Bewegung Radfahren  und die Bewegung auf dem Radweg und in der Landschaft eins und nichts anderes beschäftigt mich. Das Fahren auf dem ‚Schweberad’ stellt sich durchaus auch mal auf Steigungen ein, allerdings nicht bei Strecken über 7-8%.

Im Wandel

In vielen Bereichen erlebe ich nach und nach einen Wandel, den ich zunächst gar nicht registriere. Am auffälligsten ist die Veränderung der Natur und der Ortschaften. Die vielen verschiedenen ‚Bilder’  ohne Unterbrechung aber mit genügend Zeit erleben zu können, fasziniert mich. Selbst die Art und Auszeichnung der Radwege ist regional verschieden. Auch so kleine Dinge wie Brot und Brötchen verändern sich in Form, Geschmack und Konsistenz.
Meist ist meine Vorstellung von Schönheit von einer unbestimmten romantischen Vorstellung beeinflusst. Aber in der Gesamtheit und in der Abwechslung werden machmal auch Umgebungen 'schön', die für mich für sich allein genommen eher unattraktiv wären - zum Beispiel die Strecke ab kurz vor Saarbrücken durch Frankreich.
Einen regelrechten Bruch erlebe ich allerdings ab Verona. Abgesehen von der nun radikal flachen Landschaft gibt es hier kaum noch ausgebaute Radwege. Erst ab hier fängt in meiner Wahrnehmung Italien an. Hier ist Schluss mit der Verständigung auf Deutsch. Aber auch das Stadtbild ist nach dem Gardasee zum ersten Mal wirklich mediteran und der Straßenverkehr wird chaotischer. Entsetzt bin ich von der Qualität der Brote. Meine Geschmackssinne können es kaum fassen, wie man die jahrtausende alte Kunst des Backens, aus Mehl, Wasser und Hefe/Sauerteig köstliche Brote herzustellen, völlig missachtet und daraus nur wieder staubtrockenes Mehl, getarnt in der Form von Broten, produziert. Zum meinem Glück hat sich inzwischen aber wieder ein Wandel zum ‚Besseren’ eingestellt. Spätestens seit Rom schmeckt mir das Brot wieder.

Le petit Bocuse

Meine Küche. Abends koche ich meist trotz der Anstrengung am Tag ausführlich und gerne. Noch auf dem Rad überlege ich, was ich später in den Töpfen brutzeln will. Meine 'Küche' schmeckt mir in der Regel auch wesentlich besser, als die Mahlzeiten in den Restaurants, die ich ab und zu doch mal besuche. Auf der Tour habe ich eigentlich nur 2 Ausnahmen erlebt. Allerdings habe ich mir bei der Suche nach einem Lokal auch nie besonders viel Mühe gegeben.

Le Petit Bocuse. Im Gepäck habe ich ein Kochset von Trangia mit einem Adapter für Campinggaskartuschen. Das ist schnell aufgestellt und ich hole es immer mal wieder auch 'auf der Strecke' raus, um mir in meinem Minikännchen einen Espresso zu brühen. Soweit ich es abends auf den Zeltwiesen verfolgen kann, bin  ich der Einzige, der aufwändig mit 2 Töpfen und einer Pfanne  hantiert. Vor anderen Zelten wird nur der Inhalt einer Dose oder einer Tüte erwärmt, vielleicht noch heiße Nudeln dazu, fertig ist das Abendessen. Noch in Deutschland nennt mich ein Franzose aus Lyon mit einem ironischen Lächeln ‚Le petit Bocuse’. Dann packt er nebenan seinen einfachen Gasbrenner aus, stellt eine Konservendose drauf und ist in 10 Minuten satt (inclusive Zeit für das Aufwärmen). Danach schaut er triumphierend zu mir herüber, während ich immer noch mit Schnibbeln beschäftigt bin.

Wäre ich nur ein paar Tage unterwegs, könnte ich mir eine 'Konservenküche' noch vorstellen, aber über so einen langen Zeitraum ertrage ich es nicht.

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Kommentare: 1
  • #1

    Gerhard Wehber (Dienstag, 29 September 2015)

    Hallo Willem,
    Deine Geschichten lese ich mit Begeisterung, da ich solche Abwechslungreichen Abendteuer
    liebe. Ich wünsche Dir noch viele Begegnungen mit tollen Menschen.